Lesetipp November 2022

Roman, Heyne, 2022
544 Seiten
Wer von Ihnen hat schon mal ernsthaft darüber nachgedacht, an einem Survivaltraining teilzunehmen?
Und was ist, wenn das nicht eine Woche dauert, sondern einige Jahre und es nicht wirklich freiwillig geschieht. Dann fällt die Antwort sicher schon etwas anders aus.
Diane Cook´s Roman schildert anschaulich, wie es ist, wenn eine Gruppe von 20 Personen mit einem Mal in der Wildnis ist. Gruppendynamik, Ernährung, Kälte, Trockenheit und die natürlich lauernden Gefahren sind nur ein paar Themen, die es nicht gerade einfach machen. Der Wechsel von dem Leben als Städter zu Jägern und Sammlern wird in der Dystopie anhand der Protagonisten Bea und ihrer Tochter Agnes geschildert. Der Fokus der Geschichte liegt auf diesen zwei Personen und deren nicht ganz einfachen Beziehung unter den Rahmenbedingungen der Wildnis zueinander. Es werden Entscheidungen getroffen, die für uns als Wohlstandsbürger nicht leicht nachvollziehbar sind.
Zugleich wird das Bild eines zukünftigen Amerika beschrieben, in welchem ein Leben in der Zivilisation eigentlich nicht mehr möglich ist. Der Weg zurück zu den Wurzeln des menschlichen Daseins erscheint als der einzig mögliche Weg.
Der Roman erzählt ruhig eine Geschichte über Jahre des Überlebens, wobei das Überleben nicht jedem gelingt. Der Tod ist ein natürlicher Begleiter. Der Verlust eines Menschen aus der Gemeinschaft wiegt manchmal nicht so viel, wie der Verlust eines für das Überleben des Restes lebensnotwendigen Gegenstandes. Über 540 Seiten hat der Roman keine Längen und bleibt immer spannend.
Ralf Westerheide
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Lesetipp November 2022

Roman, Goldmann, 2022
400 Seiten
Jeden Morgen nehmen sie denselben Zug nach London, die Passagiere in Wagen 3. Iona, eine Ratgeberkolumnistin und extravagante Erscheinung, hat sich sogar Namen für ihre Mitreisenden ausgedacht: Der-einsame-Teenager, Die-hübsche-Leseratte oder Der-arrogante-Breitbeinige. Als routinierte Pendler wechseln sie kein Wort miteinander. Bis sich der Breitbeinige eines Tages an einer Weintraube verschluckt und womöglich erstickt wäre, hätte ein junger Mann ihn nicht gerettet. Dieser Einsatz des Krankenpflegers Sanjay bewirkt ein Wunder: Die Menschen im Zug beginnen miteinander zu reden. Aus sechs Fremden, die nichts gemeinsam haben als ihren Arbeitsweg, wird eine Gemeinschaft, in der alle füreinander da sind. Denn Hilfe braucht jeder von ihnen.
Der Roman von Clare Pooley lebt durch seine Protagonisten.
Ich saß sofort mit der 57jährigen Iona und Lulu ihrer französischen Bulldogge im Zug, habe den arroganten Piers, Emmie die in einer Werbeagentur ihr Geld verdient, die ihren Freund Tobi total vergöttert, Krankenpfleger Sanjay und die zurückhaltende Schülerin Martha und den langweiligen David kennengelernt.Durch Iona werden Fremde zu Freunden. Die verschiedenen Charaktere sind sehr unterschiedlich. Aber ich bin sicher, dass jeder von uns sich mit der einen oder anderen Figur identifizieren könnte. Sie sind witzig, sie sind lebendig und sie haben ganz normale Probleme, wie alle anderen auch.
Die Geschichte ist witzig, traurig, berührend und zutiefst menschlich. Für mich ein totaler Wohlfühlroman, auch wenn ernste Themen angeschnitten werden, womit man anfänglich so gar nicht rechnet.
Also eine unbedingte Leseempfehlung
Karin Westerheide
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Lesetipp November 2022

Roman, Rowohlt, 2022
288 Seiten
Frau Iglhaut, die in diesem Roman keinen Vornamen hat und von allen nur Iglhaut genannt wird, hat eine Ein-Frau-Schreinerei, tindernde Eltern, ein unstetes Liebesleben und einen kleinen Haufen schräger Nachbarn. Was sie aber vor allem hat, sind ihre eigenwilligen, immer interessanten Ansichten und Einsichten zu den Dingen, Personen und zu Situationen, in die sie gerät.
Manche ihrer Gedanken oder auch Taten werden erzählerisch nur angerissen, und das macht den Lesenden automatisch zum Mitdenkenden. Trotzdem bleibt man immer etwas auf Distanz zu Iglhaut, so wie sie auch immer ein wenig auf Distanz zu ihren Mitmenschen bleibt. Wenn sie sich für jemanden oder für eine Sache engagiert, dann aber richtig: gegen den prügelnden Familienvater in der Wohnung unter ihr zum Beispiel, oder für ihre Nachbarin mit Kind und winziger Bleibe.
Und endlich auch für sich selbst und eine glückliche Liebe.
Wer also Lust hat auf eine höchst eigene, irgendwie schräge und doch liebenswerte Protagonistin mit einem temporeichen Leben und vielen klugen Gedanken, der ist hier genau richtig!
Sonja Seiring
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Lesetipp September 2022

Roman, Rohwolt, 2022
320 Seiten
In Indonesien explodiert ein Vulkan und beschert der Welt 1816 ein Jahr ohne Sommer. In der Folge gibt es nicht nur Hungersnöte, Auswanderungswellen und eine nie dagewesene Selbstmordrate. In diesem trüben Jahr beginnt Goethe seine Wissenschaft der Wolken, Napoleon fristet verbannt ein freudloses Dasein auf St. Helena, Caspar David Friedrich malt melancholische Sonnenuntergänge - und Mary Shelley lebt mit ihrem Mann Percy, ihrer Schwester und dem berühmten englischen Schriftsteller Lord Byron ein zügelloses Leben abseits der Gesellschaft. Hier beginnt sie einen Schauerroman zu schreiben, der als Klassiker in die Welt der Literatur eingehen wird: Frankenstein oder Der moderne Prometheus. Er wird zum Sinnbild einer Zeit des Umbruchs und des technischen Fortschritts.
Wie nebenbei erfährt man noch so Einiges, was zu dieser Zeit die Welt und vor allem Europa bewegte. Neben der Geschichte rund um Mary Shelley war dieses bunte Kaleidoskop an Personen, Ereignissen und Zusammenhängen der Grund, warum ich dieses Buch einfach nicht mehr aus der Hand legen konnte. Besser als jeder Geschichtsunterricht vermittelt dieser auch sprachlich interessante Roman, was in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Welt los war. Absolut lesenswert!
Sonja Seiring
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Lesetipp September 2022

Roman, Atrium, 2020
400 Seiten
"AI", arificial intelligence oder eben auch deutsch „künstliche Intelligenz“ sind in Verbindung mit Algorithmen heute häufig verwendete Worte, bei denen der Normalbürger dann doch nicht so richtig weiß, was dahinter steckt. Bijan Moini nutzt das Thema, um eine Zukunftsvision, die allerdings nicht in der Zukunft spielt, zu veranschaulichen. In Deutschland steuert der Würfel alles und jeden. Jeder bekommt ein Grundeinkommen, dessen Höhe allerdings davon abhängt, wie viel er von sich preisgibt, denn je mehr er preisgibt, umso berechenbarer wird er. Smartphones und Social Media haben eine neue Stufe erklommen und sind so mit dem alltäglichen Leben verwoben, dass sie als untrennbar erscheinen. Klingt ja gar nicht so schlecht, wenn man bedenkt, dass wir heute sowieso schon über alle möglichen Kanäle Daten von uns zugänglich machen.
Wie man sich denken kann, ist es dann doch nicht alles so schön. Der Protagonist Taso wehrt sich gegen die Überwachung und Einflussnahme. Er ist nicht der Einzige, aber der Kampf ist nicht gerade einfach, denn die Verlockung nach einem sorgenfreien Leben ist, neben allen anderen Widerständen, ziemlich groß.
Eine düstere Aussicht auf ein Zukunftsleben, dem man einen gewissen Charme aber auch nicht absprechen kann. Beim Lesen wird jedem auffallen, wie weit wir in diesem Szenario heute schon sind. Uns wird bewusst, wie klein, in manchen Dingen zum Glück aber auch groß, der Schritt in die im Buch skizzierte Gesellschaft ist.
Bei der Lektüre wird einem außerdem klar, was man in seinem eigenen Verhalten auf jeden Fall vermeiden sollte, damit diese Fiktion nicht Wahrheit wird. Das Buch, bzw. die Story kommt näher an einen heran, fühlt sich realer an, als die von „The circle“ oder „Every“ von Dave Eggers, weil dieses Buch in Deutschland spielt und nicht nur eine Geschichte ist über eine alles verschlingende Firma ist.
Ralf Westerheide
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Lesetipp September 2022

Roman, Limes, 2020
416 Seiten
Es ist kurz vor Mitternacht, als drei junge Einbrecher in einen verlassenen Gemischtwarenladen eindringen, um nach ihrem Raubzug unterzutauchen. Doch Atsuya, Shota und Kohei wird keine ruhige Stunde bis zum Morgengrauen gewährt: Ein Brief wird von außen durch einen Schlitz in den Laden geworfen, obwohl in der Dunkelheit vor der Tür kein Mensch zu sehen ist. Als ihn die erstaunten Kleinkriminellen öffnen, beginnt eine unglaubliche Geschichte, die eine Nacht lang das Leben unzähliger Menschen verändern wird – und eigentlich begann sie vor über dreißig Jahren, als ein weiser alter Mann mit seinen Worten kleine Wunder vollbringen konnte.
Higashino versteht es meisterhaft, die vielen Charaktere, die in der Geschichte nach und nach eingeführt werden, vor unserem inneren Auge erscheinen zu lassen, in all ihren Facetten und Gedankengängen. Er erzählt poetisch aus deren Leben, von ihrer Suche nach Sinn und Antworten auf große und kleine Lebensfragen.
Und obwohl ich manches Mal nachdenken musste, wer jetzt genau wer ist, konnte ich doch in jedes dieser Leben voll mit eintauchen. Mit der Zeit verwebt der Autor alle diese Leben miteinander, was zwar erst nach vielen Seiten herauskommt, aber durch Higashinos Schreibstil wird man von Seite zu Seite getragen, ohne irgendwelche Längen zu empfinden.
Für mich war das mal wieder ein Buch zum Innehalten und zu spüren, dass jeder Wimpernschlag, jedes Wort, jede Handlung eine Auswirkung hat. Manchmal eine kleine, manchmal eine sehr große. Aber immer eine, die eine Verbindung hat zu anderen.
Wie ein Tropfen, der in einen See fällt…..
Karin Westerheide
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Lesetipp Juli 2022

Roman, Goldmann, 2020,
523 Seiten
Ein Leben lang hat Noras Großmutter Laynie die wundervollen Geschenke gesammelt, die ihr Mann von seinen Reisen mitbrachte. Jetzt, wo Granny gestorben ist, soll das Haus in Dublin mitsamt den Kostbarkeiten verkauft werden. Doch Nora, die gerade eine schwierige Trennung durchlebt, ist noch nicht bereit für den Abschied. Beim Sichten und Stöbern kommt ihr der Gedanke, wie wundervoll es wäre, für jedes Ding einen passenden neuen Besitzer zu finden. Keine leichte Aufgabe, doch endlich beginnt Nora damit, die Vergangenheit loszulassen und dem Glück eine neue Chance zu geben.
Ella Griffin erzählt in der Geschichte viele Geschichten. Im Laufe des Buches kommen immer mehr Protagonisten dazu, die alle an einem Punkt angekommen sind, an dem sie loslassen sollten und ihrem Leben wieder eine neue Richtung geben. Wir dürfen in all diese Leben eintauchen und ein Stück ihres Weges mitgehen.
Und alle diese Charaktere kommen natürlich durch irgendeinen Umstand in Noras Laden, in dem sie die gesammelten und mit vielen Erinnerung verbundenen Schätze ihrer Großmutter verkauft. Und für jeden ist genau der passende Gegenstand dabei.
Anfänglich fragt man sich, was es mit diesen einzelnen kurzen Episoden auf sich hat, doch mit jedem Eintauchen in eine neue Geschichte, ein neues Leben, versteht man, wie alles verwoben ist.
Am Ende des Buches habe auch ich mich „verbunden“ gefühlt und erkannt, dass wir alle in Verbindung sind mit ganz Vielen.
Ein richtiger Wohlfühlroman über Liebe, Familie und die Chance, dem Leben eine neue Richtung zu geben.
„Die wichtigsten Dinge im Leben sind keine Dinge.“ (Zitat von Noras Großmutter)
Karin Westerheide
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Lesetipp Juli 2022

Roman, Ullstein, 2022,
528 Seiten
Über Le Lavandou liegt der Duft von Pinien und Sonnencreme. Die Vorbereitungen für eine geschäftige Saison in dem südfranzösischen Urlaubsort laufen auf Hochtouren, als eine grauenhafte Entdeckung die Gemeinde erschüttert: Am Strand wird ein junges Paar ermordet aufgefunden. Rechtsmediziner Leon Ritter übernimmt die Obduktion, und selbst er ist schockiert von der Brutalität der Morde. Aufgrund der Surfmeisterschaften, die in
Le Lavandou ausgetragen werden, ist der Druck auf die Ermittler immens: Leons Lebensgefährtin Capitaine Isabelle Morell und ihr Team nehmen schnell einen Verdächtigen fest. Doch dann stirbt ein weiteres Liebespaar, und Leon wird klar: Das Morden hat noch lang kein Ende ...
Gerade komme ich aus dem Urlaub in Südfrankreich zurück. Eine meiner Urlaubs- und Strandlektüren war "Stürmisches Lavandou" von Remy Eyssen. Natürlich ist es toll, wenn man die Orte, die beschrieben werden, kennt, gerade dort ist und dann alles mit anderen Augen sieht. Aber auch ohne direkt vor Ort zu sein, empfehle ich den Krimi.
Eine kurzweilige Lektüre, die den Charme des Ortes, der Landschaft und der Leute einfängt. Bei einem Glas Rosé liest es sich sicher auch daheim recht gut.
Die Morde überschatten die Bemühungen des Ortes, sich durch eine Surfmeisterschaft wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu bringen.
Der liebenswerte Protagonist, eine Rechtsmediziner, kein Polizeibeamter, ermittelt unermüdlich und natürlich wird, wie in jedem Krimi, nachher alles schön aufgeklärt.
Einfach gut zu lesen.
Das Buch ist spannen, kurzweilig und eben mit südfranzösischer Lebensart gespickt.
Wer noch nichts für den Urlaub eingepackt hat, sollte das Gewicht des Buches ruhig in seinem Koffer einplanen.
Ralf Westerheide
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Lesetipp Juli 2022

Roman, Piper Verlag, 2022,
320 Seiten
Es gibt einen Ort, an dem die Geister leben, eine Welt, die unsere berührt, eine Stadt, in der mit Geschichten und Albträumen Handel getrieben wird. Ein Missgeschick lässt Nicholas James, den alle nur den »gewöhnlichen Jungen« nennen, diese Welt betreten – und alles ändert sich….
Beim Lesen des Buches „Mitternacht“ dachte ich mir, dass endlich mal wieder ein „Märchen“ geschrieben wurde. Der Schreibstil von Marzi ist ein ganz eigener. Fast mutet er etwas „altmodisch“ an, und doch ist er leicht und poetisch.
Er erzählt eine Geschichte über Geschichten.
Er führt uns in eine Nebelwelt, in der die Geister weiterleben, solange sich noch einer von den Lebenden an sie erinnert.
Allein schon diese Idee fand ich so spannend, dass ich unbedingt weiterlesen wollte.
Um sich also nicht vergessen zu werden und sich aufzulösen, sind die Geister, vor allem die wohlhabenden, darauf bedacht, dass irgendjemand ihre Geschichte aufschreibt. Dazu gibt es die „Flüsterer“, die zwischen beiden Welten hin und herspringen können und die Autoren, Filmemachern, Künstlern und vielen anderen in der Welt der Lebenden, die Geschichten der Toten einflüstern. Eben damit die Gestalten weiterleben. Wir, die Lebenden, empfinden die Einflüsterungen wie einen Traum, eine Idee, wie Kreativität die aus uns selbst kommt.
Nicholas James ist einer dieser Autoren, dem eine Geschichte eingeflüstert werden soll. Denn er hat bereits einen Roman geschrieben, in dem er seine Großmutter sozusagen verewigt hat. Sie wird also niemals vergessen werden.
Aber….. es gibt immer ein „aber“ in solchen Geschichten, Nicholas James kann den Flüsterer sehen und hören. Das dürfte gar nicht passieren. Als es dann aber nun einmal so ist, weiht ihn der Flüsterer Chesterton in die ganze Sache mit der Nebelwelt, den Flüsterern und alle dem ein.
Dieses „Alledem“ ist es, das wir miterleben dürfen, gemeinsam mit Nicholas James. Die Nebelwelt ist einerseits gleich, andererseits unheimlicher und gefahrvoller, als unsere.
Für Nicholas, der sich dort in den Findelgeist Agatha verliebt, wird es sogar sehr gefährlich.
Karin Westerheide
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Lesetipp Juni 2022

Romanhafter Erfahrungsbericht, DuMont Reiseverlag, 2021,
320 Seiten
Wem die Gedanken von Raynor Winn in ihrem Buch „Salzpfad“ gut gefallen haben, der wird an „Wilde Stille“ seine Freude haben.
Einerseits erzählt sie hier die Entstehungsgeschichte ihres Bestsellers und auch, wie es für sie und ihren Mann weiterging.
Was für mich aber weitaus nachdrücklicher war, ist ihr Erzählen über komplexe Themen wie Vertrauen in sich selbst, die eigenen Fähigkeiten, die Beziehungen zu anderen Menschen, ohne dass sie die damit verbundene Schwierigkeiten ausgelassen hätte. Und ihre wunderbaren Schilderungen der sie umgebenden Natur, deren Erhalt und Wiederherstellung Raynor Winn ein großes Anliegen ist.
Für mich ist es ein schönes, bereicherndes Buch, das ich gerne nochmals lesen werde.
Sibylle Bückle
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Lesetipp Juni 2022

Sachbuch, Droemer Verlag, 2022,
312 Seiten
Kennen wir China? Das große Land im Osten, welches eine ungeheure Macht hat und sehr große Bedeutung für die Welt. Wir glauben zumindest, etwas zu wissen. Aber in der Regel sind das nur Einzelheiten und oft Vorurteile. Desmond Shum beschreibt seinen eigenen Werdegang vom armen Jungen, der nach und nach durch Kenntnis des chinesischen Herrschafts- und Abhängigkeitssystems zu ungeheurem Reichtum gekommen ist und am Ende sein Leben noch einmal neu anfangen musste.
Das Buch strotzt nur so von Detailbeschreibungen der Abhängigkeiten vom Partei- und Staatssystem bei Immobilienprojekten. Ungeschönt werden Namen, Orte und Begebenheiten geschildert, die eine unvorstllbare Vetternwirtschaft offenbaren. In China kommt man durch Beziehungen in der Politik zu Geld, in den USA in der Regel durch Geld in die Politik.
Ein solcher Gegensatz kann schwer überwuden werden.
Beim Lesen habe ich mich immer wieder an die Art erinnert, wie in China miteinander umgegangen wird. Den merkwürdigen Konflikt zwischen geschäftlichem und westlich geprägtem Denken und die Gehorsamkeit und Abhängigkeit gegenüber den nicht sichtbaren Obrigkeiten hatte ich bei meinen eigenen Reien nach China erleben können.
Das Buch war für mich aufgrund der vielen ungewohnten Namen und auch manch unbekannter Orte nicht ganz einfach zu lesen. Die Neugierde auf die nächsten Schachzüge - egal von welcher Seite - haben mich allerdings bis zum Ende getrieben. Wer etwas mehr Einblick in das chinesische System gewinnen möchte, ist mit dem Buch sicher gut beraten.
Ralf Westerheide
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Lesetipp Juni 2022

Roman, Goldmann Verlag, 2018,
352 Seiten
Sofia Lundberg hat mit ihrem Debütroman nicht nur eine Hommage an ihre verstorbene Großtante veröffentlicht, sondern auch viele ihrer eigenen Erfahrungen und Gedanken einfließen lassen. Man spürt beim Lesen, dass ihr die Hauptfiguren sehr am Herzen liegen.
Doris wächst in einfachen Verhältnissen im Stockholm der Zwanzigerjahre auf. Als sie zehn Jahre alt wird, macht ihr Vater ihr ein besonderes Geschenk: ein rotes Adressbuch, in dem sie all die Menschen verewigen soll, die ihr etwas bedeuten.
Und Doris macht das. Das rote Adressbuch begleitet sie durch ein bewegtes Leben mit Höhen und Tiefen, mit Freude und Entbehrungen.
Heute ist Doris, 96 Jahre alt. Fast alle Weggefährten sind bereits verstorben und in Doris Adressbuch mit dem Zusatz „tot“ versehen. Auch Doris spürt, dass sie am Ende ihres Lebens angekommen ist, was sie allerdings mit ruhigem Pragmatismus durchblicken lässt.
Anhand der Einträge in ihrem roten Adressbuch erinnert sie sich noch einmal an Personen, die sie durch ihr Leben begleitet haben und an die verschiedenen gemeinsamen Stationen. Uns lässt sie teilhaben, indem sie ihre Geschichte in Briefen an ihre Großnichte Jenny festhält.
Mir hat das Buch gezeigt, wie wichtig Erinnerungen sind. weil man davon zehren kann. Wie wichtig Bindungen zwischen Menschen sind, weil sie uns erfüllen und bereichern.
Ganz besonders ging es für mich in Sofia Lundbergs Buch um die verschiedenen Erscheinungsformen und Ausprägungen der Liebe. Um die Liebe zu den Eltern, zu Geschwistern, zu Wahlverwandten, zu sich selbst.
Und besonders natürlich um die eine, die „Große Liebe“.
Karin Westerheide
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Lesetipp Mai 2022

Roman, dtv Verlagsgesellschaft, 2018,
256 Seiten
Ambroise hat einen ungewöhnlichen Beruf, der es ihm nicht eben leichtmacht, die große Liebe zu finden. Manelle kümmert sich voller Wärme um ihre teils exzentrischen Senioren – doch am Abend, da ist auch sie oft allein. Es ist ein liebenswerter alter Herr namens Samuel Dinsky, der die jungen Leute mit einem unerhörten Wunsch zusammenbringt. Auf einer kuriosen Reise in die Schweiz beginnt für die beiden – und Monsieur Dinsky – der Rest ihres Lebens.
Ein Roadtrip der besonderen Art.
Monsier Dinsky macht sich auf eine allerletzte Reise. Begleitet wird er von Ambroise, der als Einbalsamierer arbeitet und von Manelle, seiner Alltagsbegleiterin. Von Letzterer eher unfreiwillig.
Mit von der Partie ist noch Ambroises Großmutter, eine liebenswerte ältere Dame, die das Herz am rechten Fleck hat.
Die Geschichte ist humorvoll geschrieben, obwohl es dem ersten Anschein nach nicht um einheiteres Thema geht.
Der Humor zeigt sich eher durch die Besonderheit der Charaktere. Und die Geschichte regt zum Nachdenken an, indem wir daran teilhaben dürfen, wie die Protagonisten ihren Alltag erleben, welche Gedanken sie denken.
Ich selbst habe beim Lesen nachgedacht über Themen wie das Älterwerden und Selbstbestimmung, über Würde und Respekt und über Begriffe wie Güte und Freundlichkeit. Und natürlich geht es in der Geschichte, wie in jedem guten Roman, um Liebe und Zuneigung.
Mir ging die Geschichte von Monsieur Dinsky, Manelle und Ambroise zu Herzen und den Nachklang der Charaktere kann ich noch immer spüren.
Karin Westerheide
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Lesetipp Mai 2022

Roman, Goldmann Verlag, 2021,
464 Seiten
Eine Kleinstadt in Schweden, kurz vor dem Jahreswechsel: An einem grauen Tag findet sich eine Gruppe von Fremden zu einer Wohnungsbesichtigung zusammen. Sie alle stehen an einem Wendepunkt, sie alle wollen einen Neuanfang wagen. Doch dieser Neuanfang verläuft turbulenter als gedacht. Denn wegen der ziemlich dummen Idee eines stümperhaften Bankräubers werden auf einmal alle Beteiligt»en zu Geiseln. Auch wenn davon niemand überraschter ist als der Geiselnehmer selbst. Es folgt ein Tag voller verrückter Wendungen und ungeahnter Ereignisse, der die Pläne aller auf den Kopf stellt – und ihnen zeigt, was wirklich wichtig im Leben ist …
Wer oder was ist ein Stockholmer? Hängen nicht alle Personen in einer Kleinstadt irgendwie mit ihren Schicksalen zusammen? Und hat nicht jeder einen Hintergrund, den kaum einer sieht, wenn man ihn nur kurz kennenlernt? Frederick Bachmann erzählt in seiner typischen Art von den Leben und den Schicksalen einer Gruppe von Personen, die sich bei einer Wohnungsbesichtigung in einer Kleinstadt in Schweden begegnen und zufällig alle Opfer einer ungewöhnlichen Geiselnahme werden. Sie alle wollen einen Neuanfang wagen, auch der Geiselnehmer. Allerdings läuft alles anders als gedacht.
Auf amüsante und kurzweilige Art kann man die Charaktere, ihre Nöte, ihre Bedürfnisse und ihre Liebe zu einzelnen Personen kennenlernen. Letztendlich werden wir darauf hingewiesen, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig im Leben ist. Ein Buch, welches einen trotz der lockeren Schreibweise zum Grübeln bringt.
Ralf Westerheide
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Lesetipp Mai 2022

Roman, FISCHER Taschenbuch, 2022,
480 Seiten
Margery Benson hat einen großen Traum: den goldenen Käfer in Neukaledonien zu finden, den ihr Vater ihr einst in einem Naturkundebuch gezeigt hat. Doch dieser Traum ist über die Jahre hin genauso verblasst wie Margery selbst. Bis an einem grauen Londoner Morgen alles anders wird.
Dieser Roman erzählt eine Geschichte über Mut, Hoffnung, Freundschaft und Abenteuer.
Margery Benson macht sich mit ihrer jungen Assistentin, Enid Pretty, auf den Weg nach Neu-Kaledonien, um ihren Lebenstraum zu verwirklichen.
In Wahrheit aber führt der Weg die beiden Frauen in eine tiefe Freundschaft, die alle Gegensätze überwindet. In die Freiheit, sich selbst zu vertrauen und in das Abenteuer, sich immer wieder auf Neues einzulassen.
Der Erzählstil von Rachel Joyce hat für mich etwas Skurriles und Anrührendes. Beim Lesen war es mir oft zum Lachen und manchmal zum Weinen zumute, aber ich habe es von der ersten Seite an genossen, Margery Benson und Enid Pretty zu begleiten.
Karin Westerheide
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Lesetipp April 2022

Roman, Ullstein Verlag, 2021,
458 Seiten
Stellen Sie sich eine exklusive Seniorenwohnanlage in England vor, in welcher sich wöchentlich eine Gruppe Senioren trifft, um zusammen - nein, nicht zu singen, sondern - Mordfälle aufzuklären. Zugute kommen ihnen dabei die über Jahrzehnte angesammelten Erfahrungen und Beziehungen aus ihrem Berufs-/Leben.
Als dann direkt vor ihrer Haustür ein Mord verübt wird, ist der Ermittlungseifer der vier Senioren natürlich geweckt, und selbst der Chefinspektor der lokalen Polizeidienststelle kann nur über ihren Scharfsinn staunen.
Charmante Charaktere, wobei auch der untersetzte Kommissar mit seiner jungen Assistentin nicht fehlt, aber eben nicht die Hauptrolle spielt! Die Probleme, die das Altwerden begleiten - schwindende Kräfte, Demenz, körperliche Gebrechen, Einsamkeit und Abschiednehmen - werden nicht ausgespart, sondern ganz selbstverständlich eingeflochten. Besonders macht dieses Buch für mich dieses In-den-Vordergrund-Stellen der Qualitäten des Alters: Menschenkenntnis, Lebenserfahrung, Weisheit und eine gehörige Portion Unerschrockenheit.
Margareta Brenner
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Lesetipp April 2022

Roman, Goldmann Verlag, 2022,
539 Seiten.
Thirteen bedeutet hier unter anderem, das Ersatzmitglied für eine 12-köpfige Jury zu sein.
Ein eher unbekannter New Yorker Strafverteidiger soll Amerikas prominentesten Mordverdächtigen vor Gericht vertreten. Der Hollywood-Star Robert »Bobby« Solomon – jung, attraktiv und der Liebling von ganz Hollywood ist des Doppelmordes angeklagt. Er beteuert seine Unschuld und sein Anwalt vertraut ihm. Schnell wird klar, dass es auch wirklich so ist, denn der wahre Mörder sitzt in der Jury.
Ein fesselndes Buch, in welchem die Anzahl der Morde nicht mehr zählbar ist. Man ist überrascht von den vielen Wendungen und vor allen Dingen von der perfiden und perfekten Planung des wahren Killers. Und ganz nebenbei liest man zwischen den Zeilen über die Problematik des amerikanischen Rechtssystems, die Ungleichbehandlung von Verdächtigen und die nicht ganz so nette Art, wie amerikanische Polizisten manchmal vorgehen.
Wie sagt man so schön, ein „Pageturner“. Obwohl man schon früh weiß, wer der Täter ist, bleibt es spannend bis zum Schluss. Das liegt an der detaillierten Beschreibung der Charaktere und den immer wieder neuen Aufdeckungen im Laufe des Buches. Die 539 Seiten sind an wenigen Abenden gelesen, weil man dann doch immer noch ein paar Seiten weiterliest.
Ralf Westerheide
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Lesetipp April 2022

Roman, DuMont Verlag, 2021,
368 Seiten
Die schüchterne June Jones lebt in dem britischen Dorf Chalcot und ist mit Leib und Seele Bibliothekarin. Ihre besten Freunde sind die Menschen, denen sie Tag für Tag bei ihrer Arbeit begegnet: der alte Stanley, dem sie mit dem Computer hilft, Chantal, eine Schülerin, die zu Hause keine Ruhe zum Lernen hat, Leila, eine geflüchtete Frau, für die sie Kochbücher heraussucht. Außerhalb der Bibliothek bleibt June allerdings gern für sich – und in Gesellschaft ihrer Bücher. Junes wohlgeordnetes Leben gerät aus den Fugen, als die Gemeinde mit der Schließung der Bücherei droht. Und dann trifft sie auch noch Alex wieder, einen alten Schulfreund, für den sie bald ganz neue Gefühle entwickelt. Widerwillig erkennt June: Sie muss raus aus ihrer Komfortzone!
Beim Lesen dieses Buches wurde mir deutlich bewusst, warum mich die Arbeit in der Mediathek nach all den vielen Jahren immer noch so erfüllt. Es sind die Menschen, die zählen.
Der Roman von Freya Sampson ist mit Sicherheit auch ein Plädoyer für die Bedeutung von Bibliotheken und hebt die soziale Rolle von Büchereien hervor, welche für mich persönlich sowieso mit an erster Stelle steht. Und doch fand ich beim Lesen die Eigenheit der Charaktere und ihre ganz unterschiedlichen und doch von Wohlwollen und Zuneigung geprägten Beziehungen zueinander am interessantesten und am wichtigsten.
Beim Lesen begleiten wir June durch eine sehr persönliche Entwicklung und Veränderung. Ich konnte mit ihr mitfühlen, manchmal über ihre Gedanken schmunzeln und mich mit ihr stark fühlen, wenn sie mutig war und über ihren Schatten gesprungen ist.
Für mich, wieder mal ein Roman, dessen Darsteller mich die Zeit des Lesens über begleitet haben und die ich am Ende eigentlich noch nicht gehen lassen wollte.
Karin Westerheide
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Lesetipp März 2022

Roman, dtv Verlagsgesellschaft, 2021,
528 Seiten
Der bekannte Kölner Nachrichtenmoderator Tom Monderath macht sich Sorgen um seine 84-jährige Mutter Greta, die immer mehr vergisst. Was anfangs ärgerlich für sein scheinbar so perfektes Leben ist, wird unerwartet zu einem Geschenk. Als Tom auf das Foto eines kleinen Mädchens mit dunkler Haut stößt, verstummt Greta. Zum ersten Mal beginnt Tom, sich eingehender mit der Vergangenheit seiner Mutter zu befassen.
Die Geschichte führt uns zurück in Gretas Kindheit und Jugend, zurück in den zweiten Weltkrieg, die Nachkriegszeit und vor allem zurück zu den Schicksalen der damaligen Zeit.
Es geht dabei um Rassismus, um Willkür und Fremdbestimmung. Aber auch um Liebe und Hoffnung.
Nach und nach erzählt Greta aus ihrem Leben – von ihrer Kindheit in Ostpreußen, der Flucht vor den russischen Soldaten im eisigen Winter, der Sehnsucht nach dem verschollenen Vater und ihren Erfolgen auf dem Schwarzmarkt in Heidelberg.
Greta verliebt sich nach der Flucht aus Ostpreußen in den farbigen GI Bobby und bekommt eine Tochter mit ihm. Nach dem Krieg gab es in Deutschland viele solcher Beziehungen. Die Kinder, die aus diesen Beziehungen entstanden sind, waren in Deutschland, das noch vom Rassenwahn geprägt war, nicht wohl gelitten. Und so nahm auch Gretas und Bobbys Geschichte eine dramatische Wendung, die sich uns nach und nach durch die Rückblicke in Gretas Vergangenheit erschließen.
Mich hat die Geschichte unglaublich beeindruckt, weil auch meine Mutter in dieser Zeit eine Junge Frau war und ich mich deshalb oft gefragt habe, was ihr wohl alles widerfahren ist, über das sie nicht gesprochen hat, Ich weiß, dass es Erlebnisse gab, die ich mir heute in meinem „ruhigen“ Leben nur sehr vage vorstellen kann.
Gretas Schicksal hat mich oft zu Tränen gerührt aber ihre pragmatische Art, die sie als alte Dame an den Tag legt hat mich auch immer wieder lächeln lassen.
Karin Westerheide
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Lesetipp März 2022

Roman, Eichborn Verlag, 2021, 238 Seiten
Wohin flieht man, wenn man vor sich selbst davonläuft? Und wie lebt man weiter, wenn die Schuld, die man fühlt, eigentlich zu groß ist, um weiterzuleben? Marvin, genannt Prometheus, Karrierist und Klinikarzt, muss nun ohne Jakob, seinen besten Freund seit Kindertagen, klarkommen. Und mit der Tatsache, dass andere ihm die Schuld an Jakobs Tod geben. Ist er schuldig? Prometheus landet unversehens bei zwei eigenwilligen, aber lebensklugen Frauen in Dänemark, die ihm ins Leben zurückhelfen, ohne zu viele Fragen zu stellen. Hier darf er trauern, verzweifeln, hadern, zur Ruhe kommen und sich langsam wieder der Gegenwart stellen. – Nach ihrem viel beachteten Romandebüt „Marianengraben“ (Eichborn Verlag, 2020) gelingt es der deutschen Autorin erneut, eine fesselnde Geschichte in den richtigen Tönen zu erzählen. Die Worte und Szenen, mit denen sie von dieser Männerfreundschaft erzählt, waren so überraschend, treffend und prägnant, dass mir manchmal regelrecht der Atem stockte und ich die Zeilen ein zweites Mal las. Beeindruckend auch, wie die Autorin es gleichzeitig schafft, Humor und Ironie einfließen zu lassen, ohne dass sie deplatziert wirken. Ein lesenswertes Buch, und man darf auf weitere Romane dieser jungen Schriftstellerin gespannt sein.
Sonja Seiring
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Lesetipp März 2022

Roman, DuMont Buchverlag, 272 Seiten
Fräulein Hedy von Pyritz ist 88 Jahre alt und thront in ihrer Villa im Münsterland über allem. Sie ist bekannt für ihre scharfe Zunge, ihre Disziplin und ihre Eitelkeit. Sie führt die Von-Pyritz-Stiftung, eine Stiftung für hochbegabte Kinder. Doch ihre Annonce in der Zeitung »Dame in den besten Jahren sucht Kavalier, der sie zum Nacktbadestrand fährt. Entgeltung garantiert.« bringt Ereignisse ins Rollen, die sie selbst nicht erwartet hätte.
Sie stellt den Physiotherapeuten Jan als Chauffeur ein, obwohl er keinen Führerschein besitzt. Einfach nur, weil sie in ihm großes Potential sieht. Er kann so tolle Papierflieger falten.
Gleich am Anfang des Buches habe ich mich verliebt in Fräulein Hedy. Sie ist stur, bestimmend und übergriffig. Sie gibt nie klein bei und kämpft mit Verbissenheit um das Bisschen Kraft, das ihr in ihrem Alter noch geblieben ist. Aber sie hat ein riesengroßes Herz aus Gold und verbirgt hinter ihrem rauen Auftreten gut ihre eigene Verletzlichkeit.
Das Buch verläuft in zwei Handlungssträngen. Der eine heute, in dem sie Jan ermuntert endlich lesen zu lernen, ihn bestärkt und motiviert, er selbst zu sein.
Der Zweite in Hedis Jugend, als Hedys großer Wunsch Pilotin zu werden für ein junges Mädchen fast eine Unmöglichkeit war. Ihr Wesen und ihre Art werden mit jeder Rückblende sichtbarer. Sie hat in der Zeit des 2. Weltkriegs Glück und großes Leid erlebt. Ich habe beim Lesen oft mit Hedy mitgefühlt, mitgelebt und mitgeweint.
Auch Jan und sein Bruder hatten es nicht leicht in ihrem Leben, aber durch die Begegnung mit Fräulein Hedy bekommen auch sie eine neue Sicht auf die Dinge und eine zweite Chance, um etwas zu verändern und positiv in die Zukunft zu schauen.
Die Geschichte hat bei mir trotz der vielen gerührten Lesemomente Leichtigkeit und positive Empfindungen hinterlassen und den Wunsch, das Leben jeden Tag ein bisschen zu genießen.
Karin Westerheide
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Lesetipp Februar 2022
Matt Haig, Die Mitternachtsbibliothek

Roman, Droemer Verlag, 2021, 318 Seiten
Stell dir vor, auf dem Weg ins Jenseits gäbe es eine riesige Bibliothek, gesäumt mit all den Leben, die du hättest führen können. Hier findet sich Nora Seed wieder, nachdem sie aus lauter Verzweiflung beschlossen hat, sich das Leben zu nehmen. An diesem Ort eröffnet sich für Nora plötzlich die Möglichkeit herauszufinden, was passiert wäre, wenn sie sich anders entschieden hätte.
Was wäre wenn.....? Und würde es uns gefallen, wer wir dann wären? Denn schließlich sind wir die, die wir sind, durch das, was wir erlebt und gelebt haben. Würden wir, wenn wir an Scheidewege unseres Lebens zurückkehren könnten, eine andere Entscheidung treffen? Diese Frage stellen wir uns womöglich selbst oft. Nach dem Lesen des Romans hätte ich Nora gerne auch noch ein bisschen in die Zukunft begleitet, um miterleben zu können, was sie mit dem Erfahrenen anfängt.
Nora ist eine der Protagonistinnen, von denen ich mich am Ende des Buches nur schwer verabschieden konnte.
Karin Westerheide
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Lesetipp Februar 2022
Marie-Sabine Roger, Wenn das Schicksal anklopft, mach auf

Roman, Atlantik Verlag, 2021, 298 Seiten
Harmonies Leben ist alles andere als harmonisch. Die junge Frau hat Tourette, ihre vulgären Ausbrüche machen ihr das Leben schwer. Doch sie hat sich vorgenommen, sich aus der Abhängigkeit von ihrem Freund zu befreien und sich endlich einen Job zu suchen. So begegnet sie der ängstlichen älteren Dame Fleur, die außer ihrem russischen Therapeuten und ihrem übergewichtigen Hündchen jedem misstraut. Nichts spricht dafür, dass aus den beiden Freundinnen werden könnten. Doch als Fleur Harmonie versehentlich den Arm bricht, geschieht genau das. Gemeinsam entdecken sie die Welt, den Stepptanz und ein selbstbestimmtes Leben.
Die Geschichte hat mich mal zum Lachen, mal zum Weinen gebracht. Auf jeden Fall hat sie mich berührt.
Die beiden Protagonistinnen sind so verschieden, dass sie sich erst aneinander gewöhnen müssen und lernen müssen, miteinander umzugehen.
Da beide aber den Mut aufbringen, sich aufeinander und auf viele neue Menschen und Erlebnisse einzulassen, kann eine innige und bereichernde Freundschaft zwischen den beiden Frauen entstehen.
Auch die anderen Charaktere in Marie-Sabine Rogers Buch werden toll herausgearbeitet. Da ist z.B. Harmonies Freundin Elvire oder die Fischverkäuferin Tonton und der 103 Jahre alte Monsieur Poussin. Auch diese drei sind eigenwillige Persönlichkeiten und doch so liebenswert.
Für mich ein warmherziger und humorvoller Roman über Toleranz und Freundschaft, der uns zeigt, wieviel mehr in den Menschen steckt, als wir auf den ersten Blick sehen können.
Karin Westerheide
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Lesetipp Februar 2022
Simone Weinmann, Die Erinnerung an unbekannte Städte

Roman, A. Kunstmann Verlag, 2021, 265 Seiten
Ein Lehrer, der im falschen Leben gelandet ist und die Frau, die er liebt, nicht haben darf. Ein Schüler, der Arzt werden will, aber Prediger werden soll und nicht mehr zur Schule gehen darf. Und eine Schülerin, die ihr ganzes Leben lang schon ums Überleben kämpft und deren Mutter sich immer wieder den falschen Mann aussucht. Und das in einem Dorf unfreiwillig Gestrandeter, in einer nicht ganz so fernen Zukunft, Jahre nach dem Tag Null, an dem sich der Himmel verdunkelte und die Menschheit um Jahrhunderte zurückgeworfen wurde. Dass es südlich des langen Tunnels, in Italien, Wärme geben soll, Pferde und das Politecnico – die Verheißung eines zivilisierten Lebens mit Zukunft also – ist Grund genug, heimlich ins Ungewisse und Gefahrvolle aufzubrechen und alles hinter sich zu lassen, allem voran die Sicherheit des Dorfes. – Ein gelungenes Debüt der jungen, in der Schweiz lebenden Autorin; eine ruhige, nachdenklich stimmende Dystopie mit prägnanten Charakteren, die man trotz gemächlichem Spannungsbogen nicht aus der Hand legen mag.
Sonja Seiring
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